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ENG-Kameraleute, die im Auftrag des Newsoffice des Schweizer Fernsehens auf Dreh sind, erleben jeweils die gesamte Palette von Routine bis Abenteuer.
Unterwegs sind sie für Hunderttausende, die sich gleichentags über das neuste Geschehen informieren wollen. Ein Tag im Arbeitsleben von Christian Witschi.
ENG-Kameramann Christian Witschi lenkt den VW Sharan um den westlichen Gebäudetrakt des Fernsehareals und parkt vor einem unscheinbaren Eingang. «Reserviert Newsoffice», ein paar Parkplätze sind nur rudimentär beschildert, denn hier wird umgebaut. Christian erklimmt die Stufen des staubigen Treppenhauses. Noch weiss er nicht, welche Aufträge ihn erwarten. Das Telefonat gestern Abend mit der Dispo ergab, dass er heute plangemäss von 9 bis 18 Uhr eingeteilt ist.
Marianne Jenny, die Disponentin, kündigt ihm gleich nach der Begrüssung den ersten Einsatz an: eine Medienkonferenz von Schweiz Tourismus in einer der Olma-Hallen in St. Gallen. Ein Dreh für die «Tagesschau », konkret für Redaktorin Judith Aklin. Bevor Christian wieder in den Wagen steigt, checkt er kurz das Equipment. Die «Tagesschau » hat keine Sonderwünsche angekündigt, der Kameramann geht deshalb von einem Routineauftrag aus, und da genügt die Standard- Ausrüstung. Von Medienkonferenzen, das weiss er aus Erfahrung, werden einerseits allgemeine Aufnahmen verlangt, andererseits Interviews.
Erfahrung gesammelt hat der 29-Jährige mit variablem SRG-GAV schon reichlich. 2002 absolvierte er im tpc einen Stage, seit drei Jahren ist er für die verschiedensten Sendungen unterwegs. «Bis man alle möglichen Situationen richtig einschätzen kann, benötigt man aber sicher an die zehn Jahre», ist Christian überzeugt. Das weiss er auch von seinem Vater Hans Witschi, ebenfalls Kameramann mit Leib und Seele, ebenfalls beim tpc. Er war es auch, der ihn schon als Knirps zu Drehs mitnahm und ihm begeistert vom Beruf erzählte. «Ich war stolz auf meinen Vater», erinnert sich Christian, «vor allem, wenn wir das Resultat gemeinsam am Bildschirm betrachteten oder wenn er im Ausland war und wir zuhause wussten: Das sind seine Bilder.»
Nichtsdestotrotz entschied sich Christian nach der Schule zuerst für eine Hochbauzeichner-Lehre. Acht Jahre lang zeichnete und berechnete er Gebäude, danach nahm er sich eine Auszeit zehn Monate Kanada , um nach der Rückkehr seinen Traumberuf zu verwirklichen. Er wusste von Anfang an, worauf er sich einliess: Unregelmässige Arbeitszeiten und Auslandabwesenheiten dezimieren den Freundeskreis; die körperliche Belastung, vor allem des Rückens, nimmt zu. Zur Rückenstärkung schwimmt er deshalb regelmässig.
Punkt 9.30 Uhr fährt Christian Witschi beim Empfang vor, wo Judith Aklin flugs zusteigt. Sie erteilt ihm kurz das Briefing: Nebst den üblichen Bildern ist ein Interview mit dem Direktor von Schweiz Tourismus vorgesehen wie vermutet. Die Medienkonferenz startet um 11 Uhr. Die Redaktion will bereits einen ersten Bericht in der «Uno», der 13-Uhr-«Tagesschau», bringen. Das bedeutet, dass es zeitlich eng werden wird.
Die Reporterin ruft deshalb den Ostschweizer Korrespondenten, Erich Gmünder, an: Ob das Material vom St. Galler Regionalstudio aus nach Zürich «gefeedet» werden könnte? Der bietet ihr spontan an, die Kassette um 12.15 Uhr mit seiner Vespa in der Olma abzuholen. Denn um die Mittagszeit könnten die Strassen in St. Gallen verstopft sein. Eine glänzender Vorschlag; Judith Aklin nimmt ihn dankend an. Sie lehnt sich zurück. Der Tacho zeigt 120 Stundenkilometer, der VW Sharan wechselt auf die Überholspur. Draussen fliegt die Landschaft vorbei: saftig hellgrüne Wiesen, besonnte sanfte Hügel, strahlend blauer Himmel. Was für ein Frühlingstag!
Während der Fahrt werden Erinnerungen an den letzten gemeinsamen Dreh wach. Vergangenen Sommer dokumentierten die beiden die Sprengung eines alten Silos in einem stillgelegten Zementwerk in Thayngen SH. Beide können sich noch gut an die Details erinnern, obwohl sie seither unzählige Beiträge realisiert haben.
Christian erkundigt sich bei Judith, wie es ihrem Kollegen geht, der vorgestern an der 1.-Mai-Demo durch eine Flasche am Kopf verletzt wurde. Sie weiss noch nichts davon, hatte die letzten beiden Tage frei. Der ENG-Kameramann schildert ihr die Tumulte am 1. Mai in Zürich. Er war mittendrin und wurde ebenfalls mit Flaschen und Pflastersteinen beworfen, hatte aber Glück. Eine Flasche traf ihn am Bauch; doch er blieb unverletzt. Auch dank seines persönlichen Schutzengels, eines Bodyguards. Das beissende Tränengas aber konnte auch dieser nicht abwehren. Ein nicht ungefährlicher Job also, derjenige der ENG-Teams. Dazu Christian: «Um solche Einsätze reisst sich keiner. Wir sind jeweils erleichtert, wenn alle wieder heil zurückkommen.»
Seit ein paar Jahren engagiert das Newsoffice Sicherheitsleute, welche die ENG-Teams an heikle Massenveranstaltungen begleiten an einzelne Fussballspiele, an das WEF oder eben an die 1.-Mai- Demo. Vor allem die Kameraleute können nicht sehen, was hinter ihrem Rücken, was rechter Hand passiert. «Der Schutz der Menschen, die sich für uns in gefährliche Situationen begeben, hat immer erste Prioriät», erläutert Daniel Frick, Leiter Newsoffice, «zusammen mit unserem Security- Partner versuchen wir deshalb laufend, das Risiko für die Teams zu minimieren.»
An der Einfahrt zur Olma-Halle 2.1 wartet ein Parkwächter und strahlt, als er den tpc-Wagen mit SF-Beschilderung erblickt. «Sie wollen mich doch nicht etwa filmen », ruft er Christian zu und weist den Wagen unmittelbar beim Aufgang zur Halle ein. In nur wenigen Minuten sind Kamera, Stativ und Mikrofon einsatzbereit, die beiden betreten die Olma-Halle. Während Christian im Saal, wo die Medienkonferenz stattfinden wird, die Lichtverhältnisse checkt und sich mit dem Raum vertraut macht, begrüsst Judith Aklin die Verantwortlichen von Schweiz Tourismus.
«Ist eine spezielle Position für die Medien vorgesehen?», fragt Christian den Medienverantwortlichen. Der verneint. Umso besser. Dann hat der ENG-Kameramann mehr Spielraum. Auf der grossen Leinwand prangt das Schweiz- Tourismus-Logo; der Saal ist in Corporate- Rot getaucht. Die knapp zwei Dutzend Medienvertreter werden ab 11 Uhr über die Ergebnisse 2005 informiert, lassen sich den Sommermarketing-Spot und den WM-Spot («Unsere Alternative für Frauen») in HD-Qualität vorführen, die Strategie im russischen Markt und das neue Internet- Angebot erklären. Christian bannt auf Kassette, Beta SX, was relevant ist. Aus allen möglichen Perspektiven.
Kurz vor 12 Uhr: Die Fragerunde für Medienschaffende ist eröffnet. Judith Aklin wirft einen strengen Blick auf die Uhr. Fragen und Antworten ziehen sich hin. Eine Viertelstunde später bittet sie den Medienverantwortlichen, die Fragerunde für die Journalisten beim Apéro weiterzuführen, damit Jürg Schmid, Direktor von Schweiz Tourismus, fürs Interview frei wird. Die tpc-Kamera ist bereits am linken Bühnenrand in Stellung gebracht. Kurz die Höhe des Stativs justiert und Kamera ab. Ein paar gezielte Fragen, ein paar pointierte Antworten. Die SF-Journalistin, der Interviewpartner, der tpc-Kameramann: alle drei Vollprofis. Effizienter könnte ein Interview nicht sein! Nur derjenige, der den Beamer mit dem Schweiz-Tourismus-Logo bedient, denkt nicht mit. Mitten im Interview verschwindet das Logo von der Leinwand, und somit vom Bild der tpc-Kamera.
Erich Gmünder hat während der letzten Interview-Frage den Saal betreten. Es ist 12.17 Uhr. Noch während sich Judith Aklin für das Interview bedankt, überreicht ihm Christian die Kassette. Gmünder schwingt sich nur Minuten später wieder auf seine Vespa. «Heute haben wir alle Hand in Hand gearbeitet, ein Paradebeispiel. So macht ein Dreh Spass! Denn Teamwork ist beim Fernsehmachen das A und O», resümiert Judith Aklin auf der Rückfahrt. Nicht immer läuft es so easy. Manche Aufträge sind enorm anstrengend. In solchen Fällen ist die «Tagesschau»- Reporterin reichlich mit Schokoriegel ausgerüstet, «damit die Kameraleute über lange Strecken genügend Energie haben».
Gegen 14 Uhr meldet sich Christian im Newsoffice zurück. Marianne Jenny schickt ihn in die Mittagspause. Noch ist der nächste Auftrag nicht in Sicht. Neun Equipen sind heute für das Newsoffice unterwegs, davon vier mit tpc-Beteiligung: Thomas Rajman dreht für «Schweiz aktuell» eine Geschichte über den letzten chemischen Fotoautomaten der Schweiz. Beat Roth arbeitet für «10vor10»: vormittags ein Beitrag zum Thema Energie in Feuerthalen ZH, nachmittags einen über Bankgebühren in Lachen SZ. Und Patrick Gautschy besucht für «Schweiz aktuell» Vierlinge in Arbon.
Vor dreieinhalb Jahren legte SF die Dispositionen der tagesaktuellen Sendungen zum Newsoffice zusammen. Das Ziel: volle Auslastung aller Equipen. Seither werden hier wochentags von 8 bis 22 Uhr, am Wochenende von 9 bis 19 Uhr, die Drehs für «Schweiz aktuell », «Tagesschau», «10vor10» und die Korrespondenten disponiert. Das Newsoffice bedient auch TSI, TSR, TvR und ausländische Sender.
Mittlerweile brennt die Sonne schon fast wie im Sommer. Im Schatten der Kofferraumtüre überprüft Christian nach dem Essen die Standard-Ausrüstung des VW Sharan: Kamera, Mikrofone, Stative, Objektive, Lichtzubehör und die diversen Ladegeräte. Die gesamte Ausrüstung kann über einen einzigen Stecker, einem Tankstöpsel zum Verwechseln ähnlich, an den Strom angeschlossen werden.
Für das Newsoffice arbeitet der Kameramann zirka alle zwei Monate eine Woche lang. Pro Tag erledigt er zwischen einem und fünf Aufträgen, je nach Dauer, Thema und Auftragslage. Gestern beispielsweise war er ebenfalls an einer Medienkonferenz, an derjenigen der Schweizer Börse SWX, zusammen mit dem Zürcher Korrespondenten der TSR. Anschliessend machte er sich mit einer Praktikantin auf, das neue Logo der Credit Suisse am Paradeplatz abzufilmen. Denn auch aktuelles Archivmaterial will verfügbar sein.
«Jeder Dreh ist wie ein Bewerbungsgespräch », beschreibt Christian den Job eines tpc-ENG-Kameramanns. «Denn die Journalisten machen sich eigene Bilder im Kopf. Für diese Vorstellungen musst du ein Feeling entwickeln.» Dabei hilft auch der fachliche Gedankenaustausch mit Berufskollegen. Eben fährt einer zu. Marco Krobath kommt vom Zürcher Rathaus. SF hat eine Info aus vertraulicher Quelle erhalten, dass Regierungsrätin Dorothée Fierz zurücktreten wird. Allerdings war kein Regierungsmitglied zu sprechen. Marco konnte nur festhalten, wie das Gremium gemeinsam aus dem Gebäude kam.
Mehr oder weniger glücklos war heute auch Kollege Julien Cassez, der gerade aus Merenschwand AG, dem Wohnort von Doris Leuthard, zurückgekehrt ist. Stimmen aus dem Dorf über die prominente Politikerin einzufangen, wäre der Auftrag gewesen. Doch keiner getraute sich, vor dem Mikrofon etwas zu sagen.
Gegen 17 Uhr erkundigt sich Christian bei Disponentin Nicole Lips, die mittlerweile Marianne Jenny abgelöst hat, ob sich noch immer keine neuen Aufträge für ihn ergeben haben. An andern Tagen rückt er um diese Zeit oft nochmals aus. Doch heute ist es ruhig. Zudem ist ein weiterer tpc-Kollege wieder frei und verfügbar. Nicole Lips beschliesst deshalb, Christian eine Stunde früher in den Feierabend zu entlassen. Dafür wird er ein andermal länger arbeiten. Nicole Lips: «Bei uns gilt gegenseitiges Geben und Nehmen.»
Abends dann bringt die «Tagesschau » einen 2 Minuten und 15 Sekunden langen Bericht über Schweiz Tourismus, einen Mix aus Archivbildern und Sequenzen des Interviews. Aufnahmen von der Medienkonferenz sind keine zu sehen, wären aber durchaus verwendbar gewesen: Denn manchmal, bei Routineaufträgen, wenn er alle «Musts» im Kasten hat, fängt Christian an zu experimentieren. Oft entstehen dann Bilder, über die er nachträglich selber staunt.
Text: Brigitte Maurer
Foto: Franca Pedrazzetti
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