News um News, Tag für Tag

Wer bringt die Wlet mehrmals täglich ins Wohnzimmer? Wem glauben Herr und Frau Schweizer oft auf Anhieb? Klar, der "Tagesschau". Hinter jeder Ausgabe steht ein geniales Teamwork von SF DRS und tpc.

Heinrich Müller scherzt mit dem Kameramann, zupft seine Krawatte zurecht, streicht ein letztes Mal übers Revers. Nur Sekunden später verwandelt er sich in den topseriösen Moderator, den das Land kennt: "Guten
Abend, meine Damen und Herren ...". Es ist Schlag 19:30 Uhr. In der Regie sitzen neun hochkonzentrierte Profis: der Produzent, sein Assistent, der Regisseur, zwei Bildmischerinnen, der Bildtechniker, der Tontechniker. Nebenan, in der abgetrennten Sprechkabine, warten Off-Sprecherin und Off-Sprecher auf ihren ersten Einsatz. Ein paar Räume weiter hält sich der News-Techniker bereit.

Leise erteilt die Bildmischerin via Head-Mikrofon Anweisungen: "Noch 6 Sekunden ... und top!", "Achtung, Kamera 2 ... und top!" In der Regie wird nur das Notwendigste gesprochen. Höchste Aufmerksamkeit ist gefragt. Ein einziger kleiner Fehler könnte sich verheerend auswirken. Jeder kennt seinen Job in- und auswendig. Regler werden betätigt, Knöpfe gedrückt, Schalter bedient, aus- und eingeblendet ... Überall Schaltpulte, unzählige Bildschirme. Auf einem erkennt man den Moderator, auf einem andern ist schon das Makro (das Einstiegsbild) des nächsten Beitrags ersichtlich, auf dem dritten die "Bauchbinde" (der Balken mit dem Namen des nächsten Interviewpartners). In der Off-Kabine werden fast alle Texte gleich live zu den Beiträgen gesprochen. Die Off-SprecherInnen sehen die Worte oft zum allerersten Mal. Die Zeit würde nie ausreichen, die Texte vorher ausgiebig einzuüben.

Die heutige Hauptausgabe der "Tagesschau" scheint Routine pur: keine Extras wie Duplex- oder Studio-Interviews, keine Beiträge, die noch während der Sendung in Windeseile fertig gestellt werden müssen. "Das heute, das ist ein sehr ruhiger Tag", meint SF DRS-Produzent Cornelius Jehle, dem es tags zuvor ganz anders erging. Da fehlten bei Sendebeginn noch diverse Beiträge.

Kurz vor Schluss sagt ein Interviewpartner in einem Beitrag "Dömmping", meint aber "Dumping". Allgemeine Erheiterung in der Regie. Noch ein paar Minuten. Dann: Die Sendung ist gelaufen, der Tag für die einen vorbei. Jetzt ist "10 vor 10" bzw. die Ausgabe um ca. 00:50 Uhr angesagt.

Rückblende: Am Anfang steht die "Running-Order",
zu Deutsch Sendeablauf. An ihm orientieren sich alle Beteiligten, ob SF DRS- oder tpc-MitarbeiterInnen. Von allen Computern aus kann darauf zugegriffen werden. Erstellt wird er jeweils nach der ersten Redaktionssitzung morgens um 9:15 Uhr. Der Inhalt: Nummer, Titel und Dauer des Beitrags, wer ihn verfasst und welchen Level (Stand der Arbeit) er hat.
Level 3 in Kombination mit Grün heisst: sendebereit. Der Sendeablauf verändert sich während des Tages laufend.

SF DRS-Redaktor Daniel Vaia hat heute Morgen die Milano-Smog-Geschichte gefasst. Um Viertel nach elf setzt er sich zu Dominik Meier, tpc-Video-Editor, an den News-Schnittplatz Num-mer 4. Zu dieser Zeit sind
bereits alle Schnittplätze
besetzt. Man arbeitet auf
die 13-Uhr-"Tagesschau" hin.
Normalerweise gestalten die beiden einen neuen Beitrag aus Rohmaterial. Das heisst, Daniel Vaia war entweder selbst auf einem Dreh und bringt die Bilder gleich mit, oder sie werden von Agenturen übernommen und ab Server auf den Schnittplatz gespielt. Doch die Smog-Story ist untypisch. Sie wurde von den Tessiner Kollegen gestern Abend schon ausgestrahlt und wird jetzt von SF DRS adaptiert. Für Daniel Vaia bedeutet dies: eine neue Dramaturgie festlegen, eventuell kürzen, den Text übersetzen und anpassen. Für Dominik Meier: Bil-der neu anordnen, den italienischen Ton raus, den neuen rein.

Das Bild- und Tonmaterial
der Tessiner Kollegen weist nicht gerade beste Qualität auf. Aber der erfahrene Video-Editor hat eine Idee: In der übernächsten Tür, dem News- Desk, holt er im Archiv eine Verkehrskassette (mit allen möglichen Bildern und Tönen) und mischt davon neue Hintergrundgeräusche bei. Derweil recherchiert der Redaktor Unklares. Wie heisst der Arzt, der im Beitrag befragt wurde? Worauf bezieht sich die Angabe von 60 mg? Auf Knopfdruck ist er direkt vom Schnittplatz aus mit dem Produzenten, der in der Redaktion sitzt, verbunden.

Das tpc/SF DRS-Duo legt ein Arbeitstempo an den Tag, das den Laien staunen lässt. Nach einer halben Stunde ist der Beitrag bereits fertig geschnitten und vertont, die "Bauchbinden" gesetzt. Jetzt wird er auf den Sendeserver ausgespielt und für den Notfall noch auf Beta-Kassette kopiert. Im Sendeablauf markiert ihn Daniel Vaia mit Level 1. Später wird ihn der Produktionsassistent lesen und mit Level 2 versehen. Bevor er gesendet wird, prüft der Produzent den Beitrag nochmals, macht eine 3 daraus und gibt ihm den Status Grün.

"Mittags werden die Schnittplätze oft knapp, das heisst Schlange stehen", sagt der routinierte Helmut Scheben, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Obwohl er unbedingt noch den Beitrag "100 Jahre SBB" für die "Uno-Tagesschau" hinkriegen muss. Eine halbe Stunde vor Sendebeginn trifft sich die Studiocrew zu einer kurzen Regiebesprechung. Um 13 Uhr gehen die Newsleute pünktlich auf Sendung. Moderatorin Daniela Lager führt u.a. ein Live-Gespräch mit einem Bankenvertreter. Das Pikante daran: Ihr Gesprächspartner befindet sich im Börsenhandelsraum vor einer Kamera, die über eine ISDN-Telefonleitung aus der Studioregie gesteuert wird. Über eine Glasfaserleitung werden Bild und Ton live ins Studio übertragen. Der Interviewte muss nur einen Knopf drücken, um sie einzuschalten - und sich den "Wurm" ins Ohr legen. In drei Banken hat das tpc für SF DRS solche Kameras installiert. Zur Börsengeschichte wird eine ergänzende Grafik eingespielt. Das passende Programm dazu hat die Abteilung tpc data entwickelt.

In der News-Technik trifft Tag und Nacht schubweise Bild- und Tonmaterial ein: von allen Agenturen, von anderen TV-Anstalten dieser Welt. Die News-Techniker speichern das Material auf einem grossen Server. Sie sind zudem für die so genannte Havarie zuständig. Falls der Sendeserver abstürzt, speisen sie die Beiträge manuell ein. "Glücklicherweise kommt sowas höchst selten vor, zirka einmal pro Jahr", erklärt tpc-Bildoperateur Luis Baumgartner. Zu seinem Job gehört auch, in letzter Sekunde fertig gestellte Beiträge manuell einzuspielen.

14 Uhr: grosse Wochen-Redaktionssitzung. Um den Besprechungstisch haben sich fast zwei Dutzend Leute versammelt. "Tagesschau"-Chef Peter Spring hält Tages- und Wochenrückblick. Kritik ernten diejenigen, die letzte Woche ein wichtiges Thema verschlafen haben. Lob gibt's für mehrere gute Beiträge. Nach einer kurzen Wochenvorschau machen sich alle wieder an die Arbeit.

Der Nachmittag vergeht im Nu. Moderator Heinrich Müller liest sich in die bereits vorhandenen Berichte ein, beginnt seine
Moderationstexte zu schreiben. Wie fängt der Beitrag an, wie hört er auf? Was wird darin aufgegriffen? Wichtige Infos, die er bei seinen Kollegen nachfragt, mit ihnen darüber diskutiert. Soll das Makro - das Bild, das während der Anmoderation im Hintergrund zu sehen ist - des Swisscargo-Beitrags mit "Protest" oder "Unmut" betitelt werden? "Das ist ja fast dasselbe", mag da der Laie denken. Doch das "Tagesschau"-Team denkt in feinen Nuancen. Bilder vermitteln eine gewisse Stimmung. Worte müssen dazu passen. "Die Bilder diktieren die Geschichte. Du kannst dich auf den Kopf stellen, das ändert nichts. Mit Worten kann man nur unterstützen, verstärken, ergänzen", sagt Charles Clerc, der heute als Reporter unterwegs war. Sein Bericht über die Vergabe des Wakker-Preises ist zwar spannend. Aber das Bildmaterial lässt zu wünschen übrig. Im Team-work mit tpc-Video-Editor Dominik Meier, der immer mal wieder knifflige Tricks anwendet, entsteht doch noch ein interessanter Bericht für die Hauptausgabe. Gesendet wurde er letztendlich dann doch nicht: Er musste viel später eintreffenden, wichtigeren News Platz machen.
Am News-Desk sitzt Sibylle Suter. Gerade eben trifft wieder ein Schub neuer Bilder ein. Die Videodokumentalistin visioniert das Material und ergänzt das so genannte "Dopesheet" im Computer mit stichwortartigen Inhaltsangaben: "Italienische Demonstranten in Rom vor einem Pelzgeschäft. Handgemenge mit Polizisten ...".
Immer mehr Bilder laufen ein, darunter auch die bereits erwarteten über das Bombenattentat in Kaschmir. Sibylle schickt dem Produzenten eine elektronische Notiz. Der steht gerade im Gang und gönnt sich eine kurze Rauchpause. Soeben lief wieder eine wichtige News über den Ticker ein: Die beiden Kriegsverbrecher Karadzic und Mladic sollen in Belgrad verhaftet worden sein. Cornelius Jehle wird entscheiden müssen, welche andere Nachricht deshalb über die Klinge springen muss. Die "Tagesschau"-Crew checkt bis unmittelbar vor der Sendung, ob sie newsmässig auf Kurs ist.

Noch eine halbe Stunde. Heinrich Müller eilt kurz in die Maske. Nach drei Minuten, frau staune, ist er bereits kameratauglich geschminkt! Weiter geht's ins Studio zum Einleuchten. Kleider, Licht, Kamera - alles muss übereinstimmen. Die tpc-Kameraleute René Wenger und Michael Benko sind alte Hasen, seit über 15 Jahren im News-Geschäft. Den beiden kommt schon beinahe eine soziale Funktion zu. Oft betreuen sie kurzfristig eingeladene Studiogäste, nehmen ihnen die Nervosität.

Der Zeiger steht auf 19:17, der Countdown läuft: Drüben im angrenzenden NEBEZ (News-Bearbeitungs-Zentrum) nimmt Heinrich Müller zusammen mit dem Produzenten das Sommaire (Schlagzeilen) ab. Anschliessend liest er seine Texte nochmals durch. Beiträge werden gekürzt, ganze Quotes wieder rausgeworfen. Die Sendelänge muss auf die Sekunde stimmen! Im Hintergrund rattert der Drucker. Cornelius Jehle druckt die fertigen Beiträge aus. In Empfang genommen werden sie von der Bildmischerin, die die Blätter an Regisseur, Off-Sprecher und Moderator verteilt. Der Regisseur seinerseits versieht jedes einzelne mit Symbolen: Anweisungen für die Bildmischerin. Währenddessen sitzen die beiden Off-SprecherInnen am Sitzungstisch und sortieren ihren Stapel Blätter.

Noch ein paar Minuten. Einer nach dem andern hastet in die nahe gelegene Studioregie. Hier warten bereits die tpc-Verantwortlichen für Bild und Ton. Ein jeder setzt sich auf seinen Platz. "Hallo, Kamera 2?" Ist da. "Heiri?"
Ist da. Das Team ist startbereit. Konzentrierter Blick auf die Uhr. 19:29 Uhr: 1,13 Millionen Augenpaare erwarten die heutige "Tagesschau"-Hauptausgabe.

Text: Brigitte Maurer
Foto: Tina Steinauer